Elfriede
Jelinek: Das Frauen-Buch der Ränder
Literatur aus Osteuropa, die war uns lange fremd. Sie hat uns immer
Versprechen gegeben, sie war sozusagen vielversprechend, aber sie konnte
dieses Versprechen weder halten noch brechen, denn wir haben sie nicht
wirklich kennen gelernt. Wie haben uns die Literatur dieser Länder
nicht aufgebürdet, obwohl eine solche Bürde unsere Pflicht
gewesen wäre. Vieles hat man aber auch nicht kennen können.
Vieles ist unterdrückt worden, durfte sich uns nicht anvertrauen.
Als wäre es etwas Belastendes gewesen. Man sagt: Literatur von
den Rändern. Und die äußersten Ränder der äußersten
Ränder, das sind die Frauen, die schreiben. Sie sind es auch hier.
Sie sind die Grenze, der gesagt wird: bis hierher und nicht weiter.
Sie schreiben, aber sie zählen nicht. Dabei muß man mit ihnen
rechnen, gerade weil sie nirgendwo die Macht haben. Sie sind ein Faktor,
aber sie zählen beim Endergebnis nicht viel. Obwohl sie so viele
zählen. Mit der Öffnung des ehemaligen "Ostblocks"
haben sich die Ränder, zum Glück nicht durch Feuer, aufgebogen,
und der Rand hat uns diese Schriften, die sich dort angekrallt hatten,
wie mit einem Karapult zu uns hergeschleudert.
Die
faszinierend vielschichtige Literatur dieser in unsere Mitte hingeworfenen
Länder und Menschen haben wir hier in dieser von Barbara Neuwirth
herausgegebenen Anthologie "Ich trage das Land" jetzt vor
uns.
Ich selbst bin ja ein Gemisch von Abkömmlingen etlicher dieser
Länder, und so fühle ich mich in dieser Literatur sofort vollkommen
zuhause, obwohl ich die wenigsten dieser Länder kennen gelernt
habe, denn ich habe leider große Schwierigkeiten mit dem Reisen.
So reisen dafür diese Texte zu mir und bestürmen mich, als
ob mich meine Ursprünge bestürmen würden, ihnen endlich
das Kommen zu erlauben. Und so wie der Westen und der Osten einander
letztlich zugeworfen wurden, so kommt es mir vor, als würden sich
meine eigenen Vorfahren von den Ränder her aufmachen, um jetzt
auch mich in ihrer Mitte zu begrüßen.
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